Themen vergangener Monate

Das schäumende Gericht – Impro mit Anwälten

„Wir haben selten so viel an einem Tag gelacht,“ sagte der Legal Director einer renommierten Kanzlei in Berlin. Er sah dabei sehr gelöst aus. Dabei ging es um einen Impro4Business-Workshop mit seinem Team. Ja. Impro mit Anwälten. In der Welt der Reglementierungen und Paragraphen.

Besonders wirkungsvoll war die Übung, in der jemand eine andere Person durch eine Ausstellung aus den Körperangeboten der anderen Teilnehmenden führte – mit einem spontan vorgegebenen Thema. „Das schäumende Gericht. 5, 4, 3, 2, 1 – Los!“

Noch bevor sich alle komplett aufstellen konnten, brach das erste Kichern aus. Dann ein weiteres. Und plötzlich lachte das ganze Team – einfach über die pure Absurdität des Moments. Denn hier hatten gewohnte Muster keine Chance. Sich mit Argumentationsketten durchzuwinden? Vergiss es. Der Körper und die Wahrnehmung im Moment übernahmen, der Kopf kapitulierte.

Keith Johnstone sagte einst: „Improv is not about winging it, it’s about recovering.” Zu Deutsch: „Impro bedeutet nicht, sich durchzukämpfen, sondern sich zu entspannen.“ Und genau darum geht es: Loslassen vom Kopf, atmen, wahrnehmen. Die Haltung eines wissenden Kurators bei dieser Übung übernehmen, Fokus, Emotion – Schritt eins. Dann mit dem Körperangebot der dargestellten „Bilder“ spielen, wie ein Kind mit einer frisch gefundenen Muschel am Strand – sie entdecken, sich dabei freuen, sie bestaunen, hin- und herdrehen, betrachten, ihren Zweck noch nicht kennen, aber dennoch fasziniert sein. Schritt zwei. Und erst im dritten Schritt – assoziieren, das heißt, einfach ergänzen und das, was man gerade entdeckt hat, größer machen. Nicht mehr. Keine Gedanken darüber, originell, schlau, lustig, perfekt oder gar belesen zu sein. Es geht um Wahrnehmung, Intuition und Fantasie in Echtzeit.

„Hier sehen wir ein Bild aus purem Schaum, der sich in jedem nächsten Moment verändert. Der Titel: Gerechtigkeit im Wandel.“ erklärte ein Teilnehmer in der Rolle des Kurators feierlich. Dann schritt er zum nächsten Ausstellungsexponat. Er musterte das Gebilde fokussiert und ließ sich Zeit, in dem er es begeistert bestaunte.  Dann erklärte er wissentlich: „Hier sehen wir einen gigantischen Schaumsee, das ist aber nicht alles. Treten Sie mit mir etwas nach hinten! Aus dieser Entfernung ist das Gesicht von Franz Kafka im Schaum zu erkennen. Erkennen Sie hier die Augen? Das Bild heißt: „Das Schäumen im Gericht“.

Selten habe ich an einem Tag so viel Tränen gelacht.

Chirurgisch präzise das Baukastensystem durchbrechen

„People have a misplaced respect for teachers. The best teachers don’t give you answers. They give you questions.“
— Keith Johnstone

Vor 15 Jahren, als ich Impro-Klassen bei Keith Johnstone in London besuchte, fragte ein Teilnehmer: „Welche Übungen eignen sich am besten, um Storytelling und Szenenabschlüsse leichter zu trainieren?“ Keith lehnte sich zurück, musterte die Gruppe und antwortete: „Depends. Who are you teaching? What is their problem? What do they need?“

Es gibt also kein universelles Konzept. Kein Baukasten aus Übungen und Techniken nach Kategorien. Und dennoch braucht es eine Struktur, ein solides Handwerk, Erfahrung und Präzision. Klingt wie ein Mindfuck, oder?

Beim letzten Fortgeschrittenenkurs Teil 1 in Charlottenburg und bei meinen Kursen an der Humboldt-Universität erhielt ich wiederholt das Feedback, dass die Teilnehmenden ein klares Konzept und das Aufeinanderbauen der Übungen wahrgenommen und als lehrreich und bereichernd geschätzt haben. Ein paradoxes Feedback, dachte ich zuerst etwas staunend.

Denn wie ein Chirurg, der fünf Jahre braucht, um das Handwerk zu erlernen, aber 20 Jahre Praxis benötigt, um zu wissen, wann er operieren sollte, so braucht auch ein Impro-Trainer weit mehr als nur Prinzipien, Techniken und Konzepte. In meiner mehr als 25-jäjrigen Impro-Erfahrung lernte ich, im Moment zu erkennen, welche Übung und welcher Impuls für die Gruppe, ihre tagesaktuelle Dynamik und ihr Entwicklungsniveau genau jetzt richtig sind. Und zu handeln. Dafür darf der Trainer Übungen on the fly selbst kreieren, eigene Ideen fallen, neue generieren und einfließen lassen und Strukturen komplett anders oder dieses Mal gar nicht nahebringen. All das – im Moment des Erkennens, nicht erst in der nächsten Session. Das Impro-Prinzip, dem ich hier felsenfest folge, ist: „To be a hero, let others look brilliant!“

Das „Konzept“, das die Teilnehmenden erlebten, war also ein einzigartiger Raum aus maßgeschneidertem neuen Input und kreativer Übungs-generierung, der Sicherheit gab, auf ihre Bedürfnisse abgestimmt war und dennoch den Lernzielen diente. Es wurde weder davor praktiziert noch wird es danach wiederholt. Kein Baukastensystem also, viel mehr ein kreatives Durchbrechen desselben. Aus den Antworten auf die Fragen von Keith Johnstone:

„Who are you teaching? What is their problem? What do they need?“

Die Macht des Ausdruck ohne Worte. Auch außerhalb der Bühne.

Ein Sturm der Empörung brach los: „Wer glauben Sie, dass wir sind?“ „Das ist zu viel Arbeit!“ „Wir sind keine Laufburschen!“ Zu Beginn meiner beruflichen Laufbahn im Bereich Executive Search arbeitete ich mit einem renommierten Berater und Professor an einer Berliner Universität zusammen. In seiner Vorlesung, in der die Studierenden an einem wichtigen Projekt beteiligt waren, erklärte ich ihnen, was zu tun wäre. Der Saal tobte.

Panik stieg in mir auf. Tausende Begründungen rasten durch meinen Kopf, doch gerade als ich dabei war, den Mund zu öffnen, traf mich der Blick des Beraters: intensiv, präzise wie der eines Scharfschützen. Klare Botschaft – ich sollte schweigen. Er wandte seinen Blick wieder den Studenten zu. Seine Körperhaltung: souverän, präsent, als stünde er im Auge des Sturms. Kein Wort. Nur dieser Blick, gelassen und scharf zugleich, fast hypnotisierend. Und diese Körperhaltung eines kundigen Kapitäns.

Trotz des Drangs zu reagieren, sagte ich nichts. Erwartungsvoll und etwas verwirrt überließ ich meinem erfahrenen Kollegen das Feld. Eine ganze Minute verging. Eine Ewigkeit, in der ich keinen Laut von mir gab, obwohl mein Kopf vor lauter schlüssigen Argumenten fast explodierte. Der Berater blieb in seiner Haltung. Kein einziges Wort. Die Studenten, mittlerweile ebenfalls still, schienen fast gefesselt. Eine weitere Minute verstrich.

Plötzlich ergriff ein Student das Wort: „So, Leute! Wer mitmachen will, muss sich aktiv beteiligen! Ich mache jetzt eine Aufgabenliste.“

Nach der gelungenen Vorlesung sagte der Berater zu mir: „Haben Sie gesehen, Frau Tzankova, wie der Ausdruck ohne Worte das Sturmchaos bändigte?“

Improvisieren – das kann doch jeder?

Am Silvester, bei einem Umtrunk in Berlin-Charlottenburg, traf ich sie: eine strahlende Frau Mitte fünfzig, voller Präsenz, die Worte wie Pfeile abschoss. Ihr Ehemann neben ihr, geduldig, lächelnd, scheinbar gewohnt, dass sie die Bühne hält. Ihre Haltung verriet Luxus, aber nicht nur den materiellen – sie war reich an Überzeugung, an einem gewissen Selbstvertrauen, so wirkte sie zuerst auf mich.

Als ich auf ihre Frage hin von meiner Arbeit erzählte – wie ich Future Skills mit Improvisation im akademischen Bereich trainiere – schoss sie sofort ein: „Das kann doch jeder! Ich kann es auf jeden Fall. Es ist ganz einfach: seiner Intuition folgen, und dann, wenn man eine Idee hat, einfach durchsetzen und kämpfen. Kämpfen für meine Idee!“
Ihre Worte füllten den Raum, aber nicht den Austausch. Sie ließ mir wenig Platz und fuhr fort zu monologisieren. Sie sprach und sprach, kämpfte, erklärte – so sicher, so selbstverständlich. Und ich erkannte in diesem Meer der Worte: Das, was sie für Impro hielt, war kein Impro.
Improvisation ist in meiner Erfahrungswelt viel mehr. Es ist achtsame Gruppen-Mindfulness: Die eigene Intuition hören, ja – und auch die Botschaften der Anderen. Es geht darum, im Raum zu lauschen, nicht nur auf das Offensichtliche, sondern auch auf das Unsichtbare. Es geht darum, Verbindungen zu schaffen, nicht die eigenen Ideen und Positionen um jeden Preis zu verteidigen.

Eine Übung, die ich oft nutze, zeigt dies auf einfache, aber kraftvolle Weise: Zwei Spieler sprechen Zug um Zug. Doch bevor einer weiterspricht, muss er das letzte Wort seines Gegenübers wiederholen. Es klingt simpel, ist jedoch herausfordernd. Viele meiner Kursteilnehmer sagen: „Das ist anstrengend.“
„Warum?“, frage ich beim Debrief. Ich empfinde es auch so, zugegebenermaßen. Wir alle tun es.
„Es unterbricht den Gesprächsfluss,“ antworten sie oft.

Und genau das ist der Punkt. Keith Johnstone sagte es treffend: „Es durchbricht den Rhythmus des Nicht-Zuhörens.“ Wir alle hören meist bis zur Hälfte des Satzes aufmerksam zu und meinen die andere Hälfte gedanklich erahnen zu können. Das letzte Wort eines Satzes kann beim Improvisieren eine entscheidende Bedeutung in sich bergen – Möglichkeiten für das eigentliche Thema der Szene, für Wendungen, neue Entwicklungen oder ein finales Crescendo.